Der Schock sitzt noch tief, schließlich ist es gerade mal einen Tag her, dass in Finnland ein Wahnsinniger 10 junge Menschen und sich selbst erschoss, und doch sind die ersten Besserwisser und hämischen Kommentatoren und Journalisten schon dabei, ihren verbalen Müll und ihre Polemik in die Welt zu setzen. Und diesmal sogar wortwörtlich in die Welt gesetzt, nämlich auf welt online hier, wurde gestern ein hämischer Artikel, wo es im Titel u.a. hieß „…[…] und die Mordlust der Finnen„. Anstatt diesen geistigen Erguss – nach zahlreichen Leserprotesten im Forum – komplett ins digitale Nirvana zu schicken, änderte die Redaktion den Titel inzwischen klammheimlich in das kaum bessere „Der Amoklauf und die Illusion friedlicher Finnen„. Auch die im Text vorgebrachten Argumente, auf der Straße sehe man „oft“ Schlägereien, es gebe in Finnland destruktive Tendenzen, die Arbeitslosigkeit wäre hoch (5,8 % !) und die Mordrate in Finnland sei signifikant höher als in anderen europäischen Staaten, vermittelt einem Unbedarften den Eindruck, dass Finnland kurz vor dem Umkippen in die Anarchie stünde.
Das trägt genau mal wieder die Wesenszüge des unseriösen Journalismus, den wir hier so oft kritisieren, meistens zwar in Bezug auf die Berichterstattung über die USA, aber wie man sieht auch generell. Auch in den sonstigen Medien geht es, wie nach so einer Tragödie so oft, nur noch um Ursachenforschung und Schuldzuweisungen. Wie hat es dazu kommen können, warum hat die Polizei den jungen Mann wieder gehen lassen, warum hat der bloss Metal-Musik gehört, verdächtig, verdächtig, soll man YouTube stärker kontrollieren, liebte er seine Katzen mehr als sich selbst – das sind alles Fragen, die im Großen und Ganzen zwar verständlicherweise gestellt werden, aber dennoch keine befriedigende Lösung aufzeigen. Wie sollten sie auch ? Soll man alle Katzenliebhaber unter Generalverdacht stellen ? Gut, bestimmt ist es vernünftig, dass Waffenbesitzalter von 15 auf 18, vielleicht 21 sogar anzuheben. Der Amokläufer diesmal war aber 22 – what now ? Die Finnen besitzen viele Waffen – natürlich, dass steht einer Nation, bei denen die unberührte Natur quasi vor der Haustür anfängt, auch zu. Youtube kontrollieren – viel Spass dabei, das Ypsilanti-Video kursiert immer noch. Natürlich hätte die Polizei die Anzeichen erkennen müssen, eventuell war da die Fehlleistung einer weniger Beamten im Spiel, aber hey – der Typ hatte die Tat seit 6 (!!) Jahren geplant, was hätte ihn letztlich aufgehalten ? Wenn einer böswilligerweise an eine Waffe will, kommt er auch an eine.
Es ist letztlich die Ratlosigkeit der menschlichen Seele, warum so etwas geschieht, ja vielleicht warum es das „Böse“ überhaupt gibt, die einen solche Fragen stellen lässt. Das Unbegreifliche für den begrenzten menschlichen Verstand begreiflich machen. Kausalitäten herstellen, die in Zukunft so etwas verhindern. Und die gibt es, gewiss. Bei den meisten Amokläufern handelt es sich um männliche, junge Einzeltäter mit geringem bis fehlendem sozialen Umfeld und geringer menschlicher Empathie. Aber ist das wirklich zu kontrollieren ? Von Außenstehenden ? Warum haben die Eltern des jungen Mannes als Erste nichts bemerkt dann, warum haben die Mitschüler ausgesagt „er wirkte völlig normal“ ? Sein Hass auf die Menschheit war wohl das Ergebnis eines vielleicht nur zu erahnenden, aber nicht zu stoppenden Entwicklungsprozesses, wie es bei vielen so ist, schaut man sich z.B. die Biographien von Selbstmordattentätern an.
Vielleicht sind es auch, um mal schwer philosophisch zu sprechen, diese „Eruptionen des Todes“, der unvermittelt urplötzlichen Gewalt, welche in unsere abgesicherte, heile westliche Welt einbrechen, die uns daran erinnern, wie wertvoll und kostbar das Leben ist, aber auch wie zerbrechlich und abhängig von etwas, das höher ist als wir selbst. Dass wir eine Wertegemeinschaft sind oder das uns zumindest herausfordert, eine zu sein, und dazu gehört auch Anteilnahme und Trauer um die so sinnlos und jung aus dem Leben Gerissenen. Und nicht die journalistische Blasiertheit, mit der man nur sich selbst im Glanz des Besserwissenden sonnt.
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